Als Fußballer begnadet, als Mensch bescheiden: Zum Tod von Jürgen Nöldner

Jürgen Nöldner (r.) im Gespräch mit Eduard Geyer
Jürgen Nöldner (r.) im Gespräch mit Eduard Geyer

Wenn er anrief – und er rief regelmäßig an –, dann ging es in erster Linie nicht um ihn, nicht mal in zweiter. "Was gibt es Neues beim kicker?" So lautete meistens die Gesprächseröffnung, und die Frage war nie als Floskel gemeint. Jürgen Nöldner hat auch nach seinem Abschied vom kicker, dessen Berliner Büro er ab 1990 mit aufbaute und das er von 1997 bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter 2006 leitete, nie das Interesse und die Neugier verloren: am Fußball nicht, im Großen wie im Kleinen, und an den früheren Kollegen auch nicht. Um sich selbst machte er nicht viel Wind. Gegen Schulterklopfer war er immun, das Laute, das Reißerische, das Überhöhte war ihm fremd, auch als Journalist. Er war eine treue Seele und eine ehrliche Haut, als Fußballer begnadet, als Mensch bescheiden.

Sein Leben, das am Montag zu Ende gegangen ist, hätte für zwei Leben gereicht, so viel steckte drin. Seinen Vater Erwin, einen Kommunisten, der der Widerstandsgruppe Anton Saefkow angehörte, richteten die Nazis im November 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hin, ein Platz, eine Straße und eine S-Bahn-Station sind in Berlin nach ihm benannt. Umso enger war die Verbindung des Sohnes zu Mutter Lucie. Sie brachte Jürgen vor dem Mauerbau manchmal den kicker mit, wenn sie zurückkehrte vom Besuch bei Jürgens Großmutter im Westteil Berlins. Es war sein erster Berührungspunkt mit jenem Magazin, mit dem er sehr viel später eine berufliche Liaison einging, die alle Beteiligten als das empfanden, was sie war: bereichernd und erfüllend.

Der Fußballer Nöldner machte fast alles mit links, buchstäblich. "Ein gutes linkes Bein ist besser als zwei schlechte rechte", hat er gern in Anlehnung an das Bonmot von Ferenc Puskas gesagt. Mit Puskas hat ihn sein Mentor, der einstige DDR-Nationaltrainer Karoly Soos, mal verglichen, und als die DDR-Auswahl bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio im Viertelfinale Jugoslawien geschlagen hatte, da nannte die Bild-Zeitung Nöldner "den Fritz Walter des Ostens", aber erstens "hat das bei uns keiner gelesen" – und zweitens war Nöldner Nöldner. Ein Gestalter mit ausgeprägtem Zug zum Tor, der stets auch die Ökonomie des eigenen Spiels im Blick hatte. "Ich bin nie einem Ball hinterhergerannt, der nicht mehr zu erreichen war", hat er später gesagt und geschmunzelt. "Ich hab‘ immer ökonomisch gespielt. Man könnte auch sagen: schlau."

Viel begabtere linke Füße als diesen hatte die DDR in 40 Jahren nicht, aber das schnellste Tor der DDR-Länderspielgeschichte, sein 1:0 gegen Österreich im WM-Qualifikationsspiel 1965, hat Nöldner mit rechts erzielt. Sein erster Spitzname war "Wiesel", weil er als flinker Steppke die Größeren auf dem Tuchollaplatz in Berlin-Lichtenberg narrte. Später nannten ihn alle "Kuppe" – warum, war nie restlos klar. Nach seinen Anfängen bei den Knabenmannschaften von Sparta Lichtenberg – bis zuletzt sein Herzensverein –, Turbine Bewag und der 15. Oberschule landete er beim Armeesportklub Vorwärts, dessen Spiel und Stil er mehr als ein Jahrzehnt prägte. In 285 DDR-Oberligaspielen gelangen ihm 88 Treffer, mit 18 schoss er 1959 das erste Europacuptor des ASK Vorwärts im Landesmeister-Cup gegen die Wolverhampton Wanderers. Lampenfieber war etwas für die anderen, er machte sein Ding und sich nicht über alles einen Kopf. Fünf Meistertitel (1960, 62, 65, 66, 69) fuhr er mit Vorwärts ein und 1970 den FDGB-Pokalsieg. 1966 wurde er DDR-Fußballer des Jahres, und der Gewinn der Bronzemedaille 1964 in Tokio war immer auch mit dem Bandwurm davor verbunden, der ihn erst Fitness und Form und dann fast die Teilnahme kostete, sogar im Regierungskrankenhaus schauten sich die Ärzte die Malaise an.

Unterm Strich wurden es 30 Länderspiele, gewiss zu wenige für einen Spieler seines Formats, aber erstens gab es in jener Zeit noch Kalenderjahre mit kaum mehr als drei oder vier Länderspielen, und zweitens konnte Nöldner, der zeitweilig Kapitän der Auswahl war, durchaus stur sein. "Ich war auch ein eigenwilliger Typ und hab‘ nicht jedem gepasst", sagte er und war deshalb eine Zeit nicht dabei im Auswahlkreis. Der Ungar Soos, der die DDR-Nationalmannschaft von 1961 bis 1967 trainierte, war ein Glücksfall fürs ganze Team und im Speziellen für Nöldner, es passte sportlich und menschlich, mit Harald Seeger später weniger. Ende 1972, mit 31, hörte er auf – zu früh, wie viele fanden. 1971 war sein Klub von Berlin nach Frankfurt/Oder delegiert worden, die Pendelei tat sich Nöldner eineinhalb Jahre an, länger nicht: "Wäre Vorwärts in Berlin geblieben, hätte ich weitergespielt." Er hat sich gern die Welt angeschaut, seine Winter-Urlaube in Florida und an der Algarve waren über etliche Nachwende-Jahre für Jürgen und Ehefrau Heidi ein Fixtermin, aber seinen Kiez auf Dauer zu verlassen, das kam für ihn nicht in Frage, für kein Geld der Welt: "Ich wollte nie weg aus Berlin. Ich wohne in Lichtenberg, ich bin nur innerhalb dieses Stadtbezirks umgezogen."

Als ihn der kicker 1990 für sein neues Berliner Büro holte, da ließ sich Nöldner in seinem Arbeitsvertrag den üblichen Passus streichen, dass er auch an anderen Redaktions-Standorten eingesetzt werden kann – und die Probezeit gleich mit. Es war seine einzige Bedingung, und der kicker akzeptierte sie, weil er wusste, dass sich kein Besserer finden ließe für die Berichterstattung über den Fußball im Osten. "Wenn ich jemanden kritisiert habe, konnte keiner kommen und sagen: 'Der Nöldner hat keine Ahnung'", sagte er. Er war mit Leib und Seele Journalist, ab 1973 beim Deutschen Sportecho, später als Chefredakteur der Neuen Fußballwoche, schließlich beim kicker – allesamt Medien, deren Berichterstattung stets zuerst dem Fachlichen galt und gilt, was ihm wichtig war. Er war Reporter in einer Zeit, in der man Nähe zu denen, über die man schrieb, nicht vorgaukeln musste, sondern hatte. "Ich bin nirgends falsch abgebogen", sagte er zu seinem 80. Geburtstag, und er sagte das nicht so dahin, er fühlte es, er war mit sich im Reinen. "Es hat alles gepasst." Sportlich, auch beruflich und privat sowieso, mit Heidi war er fast 47 Jahre verheiratet und über ein halbes Jahrhundert zusammen, sie war sein Halt und er ihrer. Den Fußball liebte er und Western-Filme, "Rio Bravo", "Zwölf Uhr mittags", die Dialoge der Klassiker konnte er fast mitsprechen. Als der kicker eine Geschichte über ihn zum 80. Geburtstag plante, sagte er: "Schreib‘ was Schönes, so viele runde Geburtstage kommen nicht mehr." Er hat recht behalten. Nach Dixie Dörner, Joachim Streich und Bernd Bransch hat der Ost-Fußball seinen nächsten ganz Großen verloren, 2022 ist ein Jahr mit Trauerrand und wird es ewig bleiben. Jürgen "Kuppe" Nöldner ist am 21.11. im Alter von 81 Jahren in Berlin gestorben.

 

Steffen Rohr

 

Dieser Text erschien zuerst auf kicker.de